Nikolaj Roerich – Sancta (1922)

Die Serie „Sancta“ („Heilig“) von Nicholas Roerich besteht aus sechs Bildern. Zu ihr gehören die Bilder „Und Wir sehen“, „Und Wir bringen das Licht“, „Und Wir öffnen die Pforten“, „Und Wir setzen den Fang fort“, „Und Wir fürchten uns nicht“ sowie „Und Wir arbeiten“. Diese Suite hat Nikolaj Roerich im Laufe eines Jahres während seines Aufenthaltes in Amerika geschaffen. Sie ist einem einzigen Thema gewidmet: dem großartigen Russland. Aus einem Brief Elena Roerichs nach Amerika erfahren wir, dass es die „Lieblingsserie des Erhabenen Gebieters“ war.[1]

Pavel Belikov, Biograf und großartiger Kenner des Lebens und Schaffens Nikolaj Roerichs, schrieb seinerzeit: „In diesen Bildern hat Roerich die seinem Herzen nahe heimatliche Natur und altrussische Architektur meisterhaft widergespiegelt. In ihrem Hintergrund kreisen die Szenen aus dem Leben der russischen Glaubenverkünder. Ihr unermüdliches Werken und ihre geistige Reinheit sind so aufregend und aufrichtig wiedergegeben, dass diese Bilder auch heute, nach Jahrzehnten, nicht aufhören, den Zuschauer in ihren Bann zu ziehen. Damals waren sie für die Amerikaner eine Offenbarung. In Sehnsucht nach der Heimat verehrte Roerich die moralische Kraft des Volkes, jene Harmonie des Daseins, die in der Verschmelzung mit der Natur, im friedlichen Werk und der Menschlichkeit erreicht wird.“[2]

Gerne stellen wir Ihnen diese Serie vor.

Und Wir sehen. 1922
Internationales Roerich-Zentrum, Moskau
Wir beginnen mit dem Bild „Und Wir sehen“. Auf ihm ist ein nicht von Menschenhand geschaffenes Antlitz Christi dargestellt.
Über das Entstehen dieses Abbildes regen sich einige Legenden. Eine von ihnen lautet: Während des Heidentums regierte in der Stadt Edessa zu Lebzeiten von Jesus Christus ein Regent mit Namen Awgar, der an einer unheilbaren Krankheit litt. Er erinnerte sich daran, dass in der Welt der Juden ein Prediger namens Jesus erschienen war, den die Einen für einen Propheten hielten, und andere für den Sohn Gottes, und dass Er Heilungen mit einem Wort oder einer Berührung vollbringen könne. Daraufhin schickte Awgar einen Gesandten, der gleichzeitig Maler war, mit der Bitte um Hilfe zu Jesus, damit er Christus einlade, in seiner Stadt zu leben, oder Seine Abbild für die Heilung zu bekommen.
An jenem Ort angekommen, an dem Christus gewöhnlich predigte, versuchte der Gesandte, Christus zu zeichnen. Aber als der Maler Ihn anschaute, erlaubte das strahlende Licht, das von Christus ausging, nicht ihn zu zeichnen, er konnte ihn noch nicht einmal anschauen. Als Christus feststellte, dass der Maler erfolglos versuchte, Ihn darzustellen, wusch Er sein Gesicht und legte ein weißes Leinentuch darauf, auf dem Sein Antlitz abgebildet wurde.
Der Regent wurde, nachdem er dieses Leinentuch erhielt, gesund und befahl, dieses Abbild auf eine unverwesliche Tafel zu heften und in einer Nische über den Stadttoren aufzuhängen.
Nach einer Weile bekehrten sich Awgar und seine Untertanen zum Christentum. Aber einer von Awgars Nachkommen kehrte zum Heidentum zurück und wollte das nicht von Menschenhand geschaffene Abbild zerstören. Daraufhin befahl der Bischof, um das Abbild zu retten, die Nische, in der das Leinentuch war, mit Ziegeln zu verfüllen.
Aber dieses Heilige Abbild ist nicht vergangen, und als es nach zwei Jahrhunderten wieder ans Tageslicht geholt wurde, konnten alle sehen, dass es unversehrt war. Und als die persische Armee auf die Stadt Edessa zumarschierte, um sie einzunehmen, ging der damalige Bischof zusammen mit der ganzen Geistlichkeit und dem Volk mit diesem Abbild um die Stadtmauern herum, und der Feind zog sich plötzlich von der Stadt zurück und kehrte um.
Im 10. Jahrhundert bot der byzantinische Kaiser Konstantin VII. eine gewaltige Summe für das nicht von Menschenhand geschaffene Abbild, und so gelangte das Abbild nach Konstantinopel. Im 11. Jahrhundert wurde die Stadt von den Kreuzrittern zerstört, und das nicht von Menschenhand geschaffene Abbild ging verloren. Seitdem ist nichts mehr darüber bekannt. Die Abbildung dieses Antlitzes jedoch, von verschiedenen Malern kopiert, ist erhalten geblieben.
Die Nachfrage nach derartigen Ikonen war zu jenen Zeiten groß. Sie wurden als Kreuzfahnen verwendet, das heißt als Banner von Kriegsgefolgen, und auf schrecklichen Schlachtfeldern wurden sie als Hilfe und Schutz wahrgenommen.
Die Darstellungen des nicht von Menschenhand geschaffenen Antlitzes wurden häufig über Kirchenportalen angebracht. Ähnliche Darstellungen wurden auch über den Einfahrtstoren in den Kreml großer Städte, z.B. in Moskau, Smolensk, Nowgorod und anderer altrussischen Städte, angebracht. Und jeder unter ihnen Hindurchgehende musste seine Kopfbedeckung abnehmen, ansonsten zwangen die Torwächter jeden, der diese Anordnung nicht Folge leistete, dazu, sich bis zum Boden vor dem Heiligen Abbild zu verbeugen.

 

Und wir tragen das Licht (Und Wir bringen das Licht). 1922
Internationales Roerich-Zentrum, Moskau
Das nächste Bild heißt „Und Wir bringen das Licht“. Seine Symbolik ist wundervoll. Während der Abendmesse am Gründonnerstag werden alle 12 Evangelien über die Leiden Christi gelesen. Die Menschen hören dieser Lesung mit brennenden Kerzen zu, die nach der Messe nicht gelöscht, sondern nach Hause getragen werden. Mit diesem Feuer werden zu Hause die Öllampen angezündet.
Helena Roerich sagte, wie „wertvoll in schweren Zeiten, in dieser Finsternis, ist es sein Licht durchzubringen“[3] und jenen bis zu einer gewissen Stufe die sie umgebende Finsternis zu zerstreuen. In der Lehre der Lebendigen Ethik wird gesagt: „Undurchdringliches Dunkel! – so ruft ein Mensch aus, der in Verzweiflung verfallen ist. Das Licht ist erloschen – so sagt ein Mensch, der die Hoffnung aufgegeben hat.“[4] Weil das Bringen des Lichtes für die Menschen in allen seinen Aspekten ungeheuer wichtig ist.
In allen Religionen haben gerade die geistigen Leuchtfeuer eine besondere Bedeutung, die in verschiedenen Jahrhunderten und in verschiedenen Ländern jenes Licht brachten, ohne das die Völker dieser Länder in die geistige Finsternis eingetaucht wären.

 

Und Wir öffnen (Und Wir öffnen die Pforten). 1922
Internationales Roerich-Zentrum, Moskau
Gehen wir über zum nächsten Bild aus der Serie „Sancta“. Es heißt „Und Wir öffnen die Pforten“.
Auf dem Bild „Und Wir öffnen die Pforten“ sehen wir einen Mönch, der ein Bogentor öffnet, hinten dem der Weg liegt, der zu einem altrussischen Kloster führt. Durch das geöffnete Tor sind die welligen Hügel, der gewundene Fluss sichtbar – eine Landschaft, die so charakteristisch für die nordrussische Natur ist. Auf einem der Hügel steht eine Kapelle.
Nach Nikolaj Roerichs Worten symbolisieren diese geöffneten Tore eine Welt, „in der ewige Schönheit wohnt und in der der Gedanke ein zukünftiges glückliches Leben erschafft“.[5] Freier Wille und neues Bewusstsein sind die Bedingungen für den Eintritt, da gesagt wird, dass man „mit dem alten Bewusstsein nicht durch die Pforten der Neuen Welt gehen kann, so wie man ohne Flügel nicht fliegen kann.“[6] Und nur durch das persönliche Streben nach einer Neuen Welt kann sich der Mensch auf dieses helle Ziel zubewegen und die ständig ihn störenden und behindernden Umstände sowie den Widerstand des vergänglichen Menschen in sich selbst überwinden.
Nicholas Roerich schrieb in diesem Zusammenhang im Artikel „Geöffnete Pforten“: „Niemand und Nichts können den Menschen seines Strebens nach einer hellen Zukunft, hin zu den geöffneten Pforten des Lichtes, berauben.“[7]

 

Und Wir setzen den Fang fort. 1922
Internationales Roerich-Zentrum, Moskau
Auf dem Bild „Und Wir setzen den Fang fort“ versuchen rechtschaffene Fischer, ertrinkende Seelen aus den trüben Wogen des Lebensmeeres zu retten und ihnen das Licht des echten Daseins zurückzugeben. Wer sind diese Fischer? Nach der evangelischen Legende sind dies Menschen, die Christus herbeigerufen hat und seine Apostel wurden, um Seine Lehre zu verkünden. Christus hat sie gerufen, als sie ihre Netze im Meer für den Fischfang auswarfen. Er sprach: “ ‚Folgt mir nach, und ich will euch zu Menschenfischern machen!‘ Da verließen sie sogleich die Netze und folgten ihm nach.“[8]
Dank den selbstlosen Taten der Apostel haben Millionen Menschen die Lehre Christi erkannt und haben ihre Seelen vor der Finsternis der Unwissenheit und des Bösen, das sie zum geistigen Tod führt, gerettet.

 

Und Wir arbeiten. 1922
Internationales Roerich-Zentrum, Moskau
Auf dem Bild „Und Wir arbeiten“ sind im Vordergrund drei Mönche dargestellt, die Wasser für das Kloster holen. In der Ferne steht ein Klosterdorf auf einem Hügel, das von einer Mauer mit Wachtürmen umgegeben ist. In der Ferne ist eine Kirche zu sehen.
Die Glaubensverkünder holen das Wasser des Lebens, um den geistigen Durst der Menschen zu stillen, worüber Puschkin in seinem Gedicht „Der Prophet“ erwähnt: „Von geistigem Durst sind wir gequält, in der finsteren Wüste wurde ich verführt…“ In heldenhafter Mühe schöpfen sie dieses Wasser aus der unerschöpflichen Lebensquelle der Göttlichen Weisheit und auf Zuruf des Herzes teilen sie mit allen Durstenden.

 

Und Wir fürchten uns nicht. 1922
Privat-Sammlung, Russland
Wir beenden diese Serie mit dem Bild „Und Wir fürchten uns nicht“.
Auf diesem Bild sehen wir die bewegende Szene des Treffens zweier Mönche, die sich miteinander unterhalten. Neben einem von ihnen steht ruhig und friedlich ein Bär, der mit feinem Gehör die hohen Reden der weisen Greise aufnimmt, die seiner tierischen Seele wohltun. Und die Mönche fürchten ihn nicht, weil sie die friedliebende, freundliche Einstellung des Tieres ihnen gegenüber spüren. Wie Franziskus, der im Wolf seinen Bruder sah, war der Bär Bruder dieser Mönche, weil sie jenen geistigen Plan begriffen, in dem alles Seiende das Geschöpf des Einheitlichen Vaters aller Wesen ist.
In dieser Szene wird die Idee einer großen ökumenischen Verwandtschaft spürbar, einer ursprünglichen Einheit des gesamten Seienden, die infolge des Eindringens in immer tiefere Schichten der Materie getrennt wurde und die die Wahrnehmung dieses Gesetzes einschränkt. Die kommende neue große Epoche stützt sich auf das unerschütterliche Gesetz der Einheit alles im Universum Existierenden.

Anmerkungen
[1]. E. Roerich. Briefe nach Amerika. 24.05.1951. Bd.3. Moskau, 1996.
[2]. P. Belikov, V. Kneizeva. Roerich. Moskau, 1973. S. 149.
[3]. E. Roerich. Briefe Bd.1. 18. Juni 1935. Nowosibirsk, 1992.
[4]. Lehren der lebendigen Ethik. Aum. S.144.
[5]. N.K. Roerich. Seiten eines Tagebuches. Bd.2. Мoskau, 1995. S. 189.
[6]. Facetten des Agni Yoga. I. 22 April 1960.
[7]. N.K. Roerich. Seiten eines Tagebuches. Bd. 1. Мoskau, 1995. S. 59.
[8]. Evangelium nach Matthäus. Mt 4,18-22.